"Kill the Indian in him and save the man": Publikation von Dr. Uli Otto

Ausschnitt des Titelblatts der Erstauflage
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Otto beschreibt eine Zurückdrängung von Unrecht gegen indigene Nationen, gemessen etwa an der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker von 2007, welche mit Rückschlägen erfolgte. Das erste Kapitel gilt den Indianern Nordamerikas. Vom späten 18. Jahrhundert, als in den jungen USA ein Genozid breiter befürwortet wurde (S. 10), bis ins 21. Jahrhundert mit der Unterzeichnung der „Native American Apology Resolution” (Kurzbezeichnung eines Kongressbeschlusses mit Anerkennung wenigstens von Verwüstungen, schlecht durchdachtem Umgang und Vertragsbrüchen) durch den damaligen US-Präsidenten Obama in 2009 wird ein weiter Weg nachgegangen.

Im Zentrum steht der Ethnozid an den nordamerikanischen Prärieindianern, also eine Auslöschung von deren Kultur im weiten Sinn, mit seiner unmittelbaren Vorgeschichte von den 1840er Jahren bis in die 1880er Jahre, als mitgebrachte Epidemien, Krieg, Alkoholismus und Ausrottung der Bisons bereits viele Indianer das Leben gekostet hatten (vgl. S. 40).

Zwangsumsiedlungen in Reservationen sah der „Indian Removal Act” von 1830 vor, in weiten Teilen um zu ermöglichen, Bodenschätze wie Gold zu gewinnen und Viehweiden anzulegen. Auf dem Fußmarsch aus dem ursprünglichen, oft auch spirituell bedeutsamen in das vorgesehene, meist eher öde Gebiet kamen viele Indianer um, die dort angekommenen waren danach häufig auf Lebensmittelzuteilungen angewiesen. Überdies waren sie Versuchen einer Umprägung stark ausgesetzt.

Hunger gab Anlass zu mehreren letztlich asymmetrischen Kämpfen. So erboste 1862 Zynismus und eine Verweigerung von Hilfe Indianer von der Sioux-Subkultur Santee, die wie aufgetragen Mais angebaut und eine Raupenplage erlitten hatten, so sehr, dass sie einen Aufstand unternahmen, infolgedessen sie viele Männer verloren. Das Massaker von Sand Creek 1864 an den Indianern der südlichen Cheyenne kann mit Zwischenstufen als Eskalation einer Auseinandersetzung um Vieh- und Pferdediebstähle aus einer Notlage heraus angesehen werden. Den endgültig abschreckenden Schlusspunkt der Folge dieser und weiterer bewaffneter Konflikte markiert das Massaker 1890 an rund 250 Frauen, Männern und Kindern verschiedener Sioux-Stämme auf dem Gebiet des heutigen Orts Wounded Knee.

Einzelne auf Vernichtung abzielende Kriegshandlungen, Wegnahme von Land und Verdrängung wurden in einigem abgelöst von kultureller Fremdbestimmung, rassistischer Zurücksetzung und Kontrolle als Selbstzweck, letztere u.a. mit einem Abfangen einer Gruppe von Indianern vor dem kanadischen Exil (S. 60). Viel von diesen Formen einer Schädigung spiegelt der für Ottos Buch titelgebende Satz aus einer Rede von Richard H. Pratt, Gründer einer Erziehungsanstalt, 1892 wieder: „Kill the Indian in him, and save the man.” („Töte den Indianer in ihm und rette den Menschen.”)

Tatsächlich wurden für dieses versuchte „Abtöten” wesentlicher Anteile einschneidende Maßnahmen wie eine Verbringung von Kindern außer Reichweite der Angehörigen in sog. Boarding Schools sowie Körperstrafen (S. 113) und ein Verbot der Muttersprache (S. 110) dort umgesetzt. Mehr noch haben sich Mitarbeiter sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht. Schließlich sind den Verantwortlichen Tote anzulasten, durch Schläge, Unterernährung und regelrechtes Treiben zur Selbsttötung (S. 112).

Weitere Kinder starben mangels Immunität an eingeschleppten Infektionen. Von kanadischen Residental Schools, in denen ähnliche Zustände herrschten, sind auch Tote durch u.U. vermeidbare Unfälle bekannt (S. 118). Werbung für die Einrichtungen machte u.a. der deutschstämmige Innenminister Carl Schurz, wobei er es nicht für ausgeschlossen hielt, dass Indianer erblich bedingt eine bestimmte zivilisatorische Stufe nicht erreichen könnten (vgl. S. 11).

Unrecht gegen Aborigines thematisiert Otto in der jetzigen zweiten Auflage zusätzlich. Wo einerseits ebenfalls eine bewaffnete Konfrontation andauerte, später Reservationen eingerichtet und ungefähr hunderttausend Kinder weggenommen wurden, gab es andererseits Unterschiede. So traf eine vom Anfang der europäischen Besiedlung in 1788 an vergleichsweise verteidigungsbereite indigene Bevölkerung (S. 139) auf eine zurückhaltendere britische Kolonialmacht, die etwa Sondergebiete für die indigene Bevölkerung um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Reaktion auf Gräueltaten gegen diese einrichtete (S. 149).

Was die Zwangsassimilation betrifft, kam Pflegschaft für Kinder in weißen Familien besondere Bedeutung zu, es wird in diesem Kontext von einer „Stolen Generation” („Gestohlene Generation”) gesprochen. Eine Parallele stellt zudem die Schädigung infolge von Uranabbau und Nuklearwaffentests dar. Insgesamt wurden die Aborigines zwischenzeitlich willentlich oder sehenden Auges ebenfalls um eine Größenordnung geradezu dezimiert und erfuhren einen Verlust eigener Kultur.

Wirtschaftliche Hintergründe, etwa Nahrungsmittelknappheit oder Bergbauvorhaben, von Ereignissen und Entwicklungen aufzuzeigen gehört zu den Spezifika der vorgelegten Abhandlung. Christliche Einordnungen und Appelle passten auf das entsprechende Vorgehen zu Lasten der indigenen Bevölkerungen, so wenn ein Untertan-Machen der Erde (Gen 1,28) im Sinn von Ackerbau als Voraussetzung für ein Recht am Land hingestellt wurde (S. 10) oder Ignoranz mit einem Abgenommen-Bekommen von Gütern bei Nicht-Haben (Mt 25,29) gerechtfertigt (S. 132). Festzuhalten ist an dieser Stelle weiter, dass Geistliche in Erziehungsanstalten Verantwortung trugen.

Ein zusätzliches Charakteristikum von Ottos Arbeit ist, stets Bezüge zu deutschen Ländern bzw. später Deutschland zu dokumentieren. Gerade in Nordamerika waren viele der Unrechtstäter in Erziehungsanstalten deutsche Missionare und Erzieher (S. 8), deutschstämmige Auswanderer dienten in Grenzarmee und Bürgerwehren (S. 9) und Siedler mit deutschem Hintergrund schlossen sich Vernichtungsdenken an (vgl. S. 25).

Ottos Betrachtung ist dabei nicht einseitig, so wenn er von indianischen US-Scouts berichtet (S. 63) oder die - großenteils übernommene - Folterpraxis anspricht (S. 10). Ebenso wenig liegt keine falsch verstandene politische Korrektheit vor, was schon die Vorbemerkung zeigt, wo die Bezeichnung „Indianer” als ähnlich neutral und bei den Gemeinten akzeptiert wie „Inder” beschrieben wird.

Aktualität ergibt sich in Anbetracht einer nicht vollständig geleisteten Aufarbeitung bzw. fortbestehender verkürzter Sichtweisen auf das Herkommen, insbesondere das der „ältesten Demokratie der Welt”. Den heutigen Zustand u.a. mit einer Indianerin vom Stamm der Laguna Pueblo, Deb Haaland, als US-Innenministerin nicht als für immer gewonnen zu anzusehen, legt der Wechsel der kulturell gewähren lassenden Herangehensweise in den USA der 30er und 40er zur „Indian termination policy” (sinngemäß übersetzt einer „Beendigungspolitik des Indianerseins”) unter Präsident Eisenhower nahe. Außerdem ist in Teilen Südamerikas vieles noch nicht einmal gewonnen. Schließlich gilt es den Blick zu schärfen für jeglichen Rassismus, auch in der BRD.

Ein erster Gratulant für das Werk ist der frühere Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Prof. Dr. Rolf Brednich. Die Monographie beurteilt er als „hochinteressant”. Der Leiter des Referats o9 „Historische Grundsatzfragen; Erinnern und Gedenken” des Bundespräsidialamts, Dr. Heiko Holste, schreibt über das Buch: „[Es] wird uns bei der weiteren Auseinandersetzung mit Carl Schurz und seiner Verantwortung als US-Innenminister von 1877-1881 gewiss hilfreich sein.”  

Wie bei der bereits online verfügbaren Erstauflage 2021 fungiert der Bund für Geistesfreiheit (bfg) Regensburg als Herausgeber, nachdem das Werk Menschenrechtsarbeit beinhaltet und damit in eines seiner zentralen Betätigungsfelder fällt. Mit seinem historischen, ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Gehalt leisten der Fließtext, der umfangreiche Apparat und der vielteilige, Literaturzusammenstellungen und Filmbesprechungen umfassende Anhang auch einen Beitrag zur Popularisierung von Wissenschaft, an der dem bfg liegt.

Der promovierte Volkskundler Otto verbindet mit Indianern eine Befassung seit der ersten Lektüre von Romanen der Historikerin Liselotte Welskopf-Henrich, die ohne Stereotype gestaltet sind. Die Erweiterung um den Teil zu den Aborigines erschien schon im Vorfeld naheliegend. Das Einfließen von Information aus persönlichen Kontakten des Verfassers, auch aus zivilgesellschaftlichem Engagement heraus, zu Indianern und Aborigines sorgt für Unmittelbarkeit, Nähe und Absicherung. Insgesamt kann eine Lektüre einem realistischen Bild von Geschichte und Gegenwart indigener Völker dienen und hinsichtlich deren Wahrnehmung und Behandlung sensibilisieren.