Ästhetik und ihre Bedeutung für die internationale Politik: Publikation von Dr. Nadim Sradj

Der bfg Regensburg hat das Druckwerk zur Wahrnehmungslehre von Dr. Nadim Sradj herausgegeben.
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Mit Stadtzentren, kulturellen Stätten, Denkmälern und Museen greifen russische Truppen einen Teil der Identität der Ukraine an. Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen (UN) im Bereich kultureller Rechte, Alexandra Xanthaki, befürchtet Auswirkungen auf die Rückkehr zu einer friedlichen multikulturellen Gesellschaft nach dem Krieg. Um zukünftig einen derartigen unmittelbaren und mittelbaren Verlust zu verhindern und darüber hinaus letztlich dem Frieden in der Welt insgesamt zu dienen, leistet auch der Philosoph und Augenarzt Dr. Nadim Sradj einen Beitrag.

Sein Ansatz ist, zunächst die Wirkung von Kulturgütern wie Welterbestätten beim Einzelnen auf wissenschaftliche Weise zu erfassen. So gelangt er zu einer eigenen Wahrnehmungslehre, die er wegen der neurowissenschaftlichen Rückbindung „sinnesphysiologische und sinnespathologische Ästhetik” nennt. Eine Einzelabhandlung von ihm hierzu liegt nun vor. Sie geht ausführlich auf Verbindungen der visuellen Ästhetik zu Politik bzw. zeitgeschichtlich bedeutsamem Handeln bestimmter Akteure ein.

Sradjs Ästhetik verfügt über ein weit von den exakten Wissenschaften herrührendes Schema, mit dem sie zu Erkenntnissen gelangt. Schlussgefolgert wird aus speziellen Feststellungen im Einzelfall (Logik der Induktion), Einflüsse werden gesondert beobachtet (experimentelle Methode) und die Naturgesetze gedanklich aktiv nachvollzogen (Verfahren der Rekonstruktion einer Hypothese oder allgemeinen Aussage). Geisteswissenschaftliche Zugänge sieht er insbesondere bei augenfälligen einzelnen Auszeichnungen oder Verlusten kulturellen Erbes als weiterführend an, er spricht in dem Zusammenhang von Pro- bzw. Anti-Ästhetik. Davon abgegrenzt werden An-Ästhetik und Ästhetik, die mit einer naturwissenschaftlichen Vorgehensweise vorteilhaft beschrieben werden können.

Zu den so erhaltenen Resultaten zählt, Werke bildender Kunst in ihrer Komplexität als eigenes Subjekt einzuordnen. Mit ihnen kann man gleichsam in einen Dialog treten statt sie mehr oder weniger nur zu scannen (Intersubjektivismus). Als Basisgrößen der Wahrnehmung kommt Zeit und Raum Bedeutung zu, insbesondere wenn der politische Bereich mit Bewusstseinswandel und Territorien in den Fokus genommen wird. Dabei werden Themen wie Ablauf und Umschlag bzw. sogar eine fraktale Dimension behandelt.

Für die Gestaltung des Zusammenlebens macht Ästhetik viel aus, weil sie ein Wertesystem umfasst, verdeutlicht und über sich hinaushebt. Damit geht sie in einigem weiter als Ethik und Moral. Dies gilt für Sradj vor allem hinsichtlich des inklusiven Charakters, insoweit entsprechende Werte allgemein bestehen und damit verbinden. Sradj spricht von einer „Weltästhetik”, die sich unabhängig von soziokulturellen Zugehörigkeiten erschließt bzw. der „Existenz eines ästhetischen Weltbewusstseins”. Dieses Konzept lässt sich in gewisser Hinsicht parallel zu dem eines Weltethos verstehen.

Zudem engt die Universalität im Bereich der Ästhetik nicht ein, vielmehr erlaubt sie eine Offenheit des Ausdrucks, subjektive und freiheitliche Formen, was jedoch nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf. Wesentlich bei alledem ist, dass im Zuge der menschlichen Wahrnehmung eine Entsprechung zu Werten geprüft wird und keine Dienlichkeit für Interessen. Im pathologischen Fall geht diese zugunsten einer „Falschnehmung” aus, nicht „Wahrnehmung”.

Was für einen gewichtigen Wertebezug Ästhetik hat, lässt sich an der Aggression gegen Kulturgüter ablesen. Mit deren Zerstörung kann Sradj zufolge ein Wertesystem zusammenbrechen. Umgekehrt zeigt ein Beispiel wie der Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigten und vom SED-Regime gänzlich abgerissenen Berliner Stadtschlosses als Humboldt-Forum, wie Achtung historischer Bauten gelebt werden kann. Als Gemeinsamkeit menschlicher Wahrnehmung hat man insbesondere auch eine Sensitivität für das Schöne der Natur. Das lässt sich schon an einer unweigerlichen psychosomatischen Reaktion auf einen Blumenstrauß ablesen, etwa dass das Herz höher schlägt. Politisch relevant wird Faszination für Natur im Bereich der Ökologie.

Sradj konnte für seine Forschung auf Kompetenz als Augenarzt und studierter Philosoph zurückgreifen. Die Perspektive ist daher eine andere als bei der konventionellen subjektiv-psychologischen Orientierung von Ästhetiken. Dies wird auch an dem bereits gemeinsam mit der Philosophin Dr. Marion Sradj veröffentlichten Werk „Dynamik des Sehens” deutlich, an dessen Ergebnisse er anknüpft. Mit internationalen Themen verbindet den gebürtigen Syrer, der seit 1956 in Deutschland lebt, auch die Biographie. Für die Union arabischer Mediziner in Europa, ARABMED, fungiert er zudem als offizieller Vertreter bei den Vereinten Nationen in New York und der UNESCO in Paris, wo er seine Gedanken einbringen konnte.

Unter anderem hat er am 20.7.2021 auf Einladung vor Vertretern der UNESCO in Paris seine auch im neuen Druckwerk enthaltenen Ergebnisse vorgestellt. Die Forderung nach einer gerichtlichen Ahndung der Zerstörung von Museen oder Kulturerbe fand Zuspruch. Für Sradj spiegelt die zugrundeliegende Befassung mit gefährdeten Stätten eine Akzentverschiebung in der systemphilosophischen Ästhetik wider, ein Stück weit weg von Themen Adornos und Lukacs'. Eine weitere sichtbare Unterstützung erhielt er bei Hubert Thurnhofer, der in der voraussichtlich im Herbst 2022 stattfindenden Wahl für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidiert.

Als Herausgeber hat sich der Bund für Geistesfreiheit (bfg) Regensburg des Werks angenommen, nachdem es an der Schnittstelle zweier seiner Betätigungsfelder liegt. Zum einen tritt das Werk implizit für Menschenrechte ein, zu denen mit Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Recht auf kulturelle Teilhabe gehört. In diesem Kontext ist auch ein Schutzanspruch für die belebte Natur als Ganzes zu nennen. Zum anderen stellt es einen Teil der Wissenschaft dar und ermöglicht eine breitere Vermittlung.

Bei weiterem Interesse an Sradjs Theorie lädt der bfg Regensburg auch herzlich zu dessen Vortrag anlässlich des Welthumanistentags ein. Er findet auf der Feier am 21.6.2022 um 19:30 Uhr statt, nach einem Abendessen ab 18:00 Uhr. Im Anschluss besteht Gelegenheit zu einer Diskussion der Inhalte. Veranstaltungsort ist der Dechbettener Hof in Regensburg.

Der Vorsitzende des bfg bei Erscheinen, Erwin Schmid, formuliert in einem Vorwort die Notwendigkeit, „die Kategorie der Ästhetik in die Lehrbücher der Politologie und der internationalen Diplomatie einzuführen”. Dies würde auch auf einen Gedanken der Sonderberichterstatterin der UN im Bereich kultureller Rechte passen: „Wir ermessen oft nicht, wie verheerend Verletzungen kultureller Rechte für den Frieden sein können.” (Im Original: „We often do not measure how devastating violations of cultural rights can be for peace.”)